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Auszug aus dem Praktikumsbericht des Diakonenschülers K-JT aus den 60er Jahren

Das Stammpersonal reagiert mit einer verblüffenden Idee. Jürgen bekommt abends grundsätzlich nichts mehr zu trinken und keine Suppen. Der Erfolg blieb natürlich aus. In gereizter Stimmung beschloß man: nachmittags bekommt er auch nichts mehr zu trinken. Der Erfolg blieb ebenfalls aus. Durch morgendliche Schläge versuchte man dem gewünschten Ziel näher zu kommen. Man versagte ihm mittags die Suppe und genehmigte für morgens gnädigst eine halbe Tasse Kaffee. Erfolg =  Null  !

Von grosser Bedeutung war der Antrittsbesuch bei Schwester Elf. der Oberin des Hauses, die mir die für das Haus geltenden Richtlinien gab. Dazu gehörte z.B. auch, was für mich selbstverständlich, für die Arbeit auf der Station jedoch von grösster Bedeutung war, wie ich später mit Bestürzung erfahren musste: das Schlagen ist strengstens verboten.

 Ein Muskelschwündler, der noch eben laufen konnte, hatte abends, nachdem das Licht ausgeschaltet worden war, sein Hobby darin gesehen, die Krümel aus seiner Kekstüte gleichmäßig im Zimmer zu verteilen. Am nächsten Morgen verlangte ich von ihm, daß er sich einen Besen besorge und den Raum ausfege. Unter Tränen beteuerte er es nicht wieder zu tun, aber er könne keinen Besen tragen, damit fiele er hin. Ich blieb bei meinem Auftrag. Schließlich machte er sich auf den Weg und kam nach einer Weile, den Besen hinter sich herziehend, freudestrahlend zurück und machte sich an die Arbeit. Zwei Drittel des Raumes waren sorgfältig gefegt, da erblickte die Stationsschwester die  "Untat", nahm ihm den Besen ab, rief mich, schimpfte ob meines Auftrages und schloß mit den Worten: "Der kann nicht fegen, der bekommt was drauf!", was sie dann auch gleich verwirklichte, begleitet von den Worten: "Der bekommt was drauf, dann schmeißt er nicht noch mal Keks hier rum!" - Ich muß furchtbar dumm geguckt haben.

 Das andere Beispiel schloß sich an einen Mittagsdienst an. Die Stationsschwester hatte ihren freien Nachmittag. Mir ist der Tatendrang eines Jungen sehr vertraut, und so hatte ich mit meinen Jungs vereinbart, daß jeder Läufer für einen Wagen verantwortlich sei. Der Wagen werde zum Aufzug gefahren, dort warte jeder bei seinem Wagen und bringe ihn auf der Station in das jeweilige Zimmer. Zum erstenmal erlebte ich einen reibungslos verlaufenden Zug zur Station. Die Läufer, teils selber in Schienen, brachten die Wagen nicht nur in die Zimmer, sondern zogen die Insassen ihrer Wagen auch noch unaufgefordert aus.

 Am nächsten Tag kam die Stationsschwester der Karawane auf halbem Weg zum Aufzug schon entgegen. Ohne Vorrede schlug sie auf einen Spastiker ein und verkündete gut vernehmbar: "Du faßt mir keinen Wagen an, wie du hinter dem Wagen hertanzt (Imitation folgte sogleich), du schmeißt mir den Jungen raus!"

(Wenn man 2 1/2 Jahre in der Schwerindustrie mit ihren tausend Unfall- und Gefahrenquellen gearbeitet hat, bekommt man einen Blick für so etwas. Die Gefahr des Hinausfallens bestand nicht.) Mir blieb nichts weiter übrig, als die hilfesuchenden Blicke der schockierten Jungens zu ignorieren. Auf der Station verschafften sie sich dann durch einige Kraftausdrücke zur Person und zur Sache den Groll vom Hals.

All dies, eine Kette von Beispielen ließe sich anschließen, konnte mich jedoch von dem Plan, den Kindern auf alle erdenkliche Weise zu helfen, nicht abbringen. Es wurde wahrlich eine große "Schluckbereitschaft " verlangt.

 Eine Begebenheit auf der Mädchenstation, bei der ein Mädchen, ich möchte fast sagen auf bestialische Weise gezwungen wurde zu essen, beanspruchte meine Nerven aufs Äußerste.

 Die beiden Diakonissen der Mädchenschulstation hatten ein schmächtiges, elend aussehendes Würmchen auf den Boden gelegt, knieten sich auf Arme und Beine, und während die eine den Kopf festhielt und ihm den Mund aufriß, schaufelte die andere ( man kann es wirklich nicht anders bezeichnen ) das Essen, Kartoffel, Fleisch und grünen Salat in den Mund. Was das Kind erbrach wurde wieder mit hineingeschaufelt. Begleitet wurde das Ganze von einem herzzerreißenden Geschrei des Mädchens. Ich war unfähig zu handeln. Der freie Nachmittag, der das Essen beschloß, bewirkte durch endloses Wiederholen dieses Dokumentarfilms, begleitet von Herz- und Magenkrämpfen, einen hohen Grad an Erholung und Entspannung. -  Sieht es so hinter allen Anstaltsmauern aus?

 Ein Gespräch über diesen Vorfall, das sich zufällig mit Herrn Pfarrer K. ergab, endete mit den leeren Worten: " Bruder T., es ist gut, wenn man neben den positiven auch die negativen Seiten sieht!" Meine Marschrichtung war klar. Mit Hilfe von höherer Stelle war nicht zu rechnen. Ich sagte dem unmenschlichen Geschehen auf der gesamten Schulstation den Kampf an. Das klingt sehr hart, war aber in dieser Verzweiflung mein Fahrplan. Mir war klar, daß für mich nun ein Nervenkrieg folgen würde, wie er in einer kirchlichen um nicht zu sagen christlichen Einrichtung wohl nicht erforderlich zu sein brauchte. -

 Fast jeder Tag brachte Überraschungen und Schocks mit sich. Oft war es nicht anders möglich als entrüstet wegzuhören. Kleinigkeiten vielfach, die für einen jungen Menschen nicht ganz unwichtig sind, liefen fehl.

 Einige der Kinder waren im Sommer mit der Schule an der See in Holland. Das "Schlimmste" was geschehen konnte traf ein. Der Bus kam erst kurz vor der Zeit an, zu der sonst auf den Stationen alles versorgt ist. Die Stimmung des Personals sank auf Minuswerte. Da, endlich wurde das Fahrzeug gesichtet. Die Schwestern in vorderster Linie zerrten die Kinder aus dem Wagen. Die ersten Worte, die zu hören waren, muteten mich wie Ohrfeigen an. Die Kinder, traurig darüber, daß die schöne Zeit vorbei war, wurden mit den Worten empfangen: "Ihr habt auch nicht nötig euch zu verabschieden wenn ihr wegfahrt, und dann kommt ihr noch so spät zurück, jetzt schleunigst nach oben und ohne einen Mucks ins Bett" - Eine herzerfrischende Begrüßung. - Ist auf der Station so wenig zu denken, daß man drei Wochen behält, wer sich nicht verabschiedet hat? Kann man sich so wenig in das Empfinden und Denken eines Kindes versetzen? Oder werden die Geschöpfe gar nicht als Kinder betrachtet?

.Nun ist es in kleineren oder größeren Gemeinschaften üblich, sich einen Sündenbock oder ein sog. "Schwarzes Schaf" zu halten. So auch auf Station J III K, warum sollten wir auch zurückstehen. Unser armes Wesen heißt Jürgen. Jürgen frönt dem Hobby, nachts des Öfteren sein Bett anzufeuchten. Sein "Ehrentitel" Bettnässer ist ihm damit garantiert. - Ich möchte gleich bemerken, daß kein organischer Fehler vorliegt. Sein Nässen basiert auf psychischen Depressionen. - Diese Tatsache existiert aber nicht für das Stammpersonal der Station. -  So konnte man allmorgendlich nahezu einen Wettlauf des älteren Personals zu Jürgens Zimmer beobachten, um einen "positiven" Befund klatschend und schreiend den übrigen Mitmenschen zu übermitteln. Immer wieder erzählen die Kinder, daß sich vor meiner Zeit die Schlagzahl von einem zum anderen Mal jeweils verdoppelte.    -   Eine der Richtlinien: "Das  schlagen  ist strengstens verboten! "

Das Stammpersonal reagiert mit einer verblüffenden Idee. Jürgen bekommt abends grundsätzlich nichts mehr zu trinken und keine Suppen. Der Erfolg blieb natürlich aus. In gereizter Stimmung beschloß man: nachmittags bekommt er auch nichts mehr zu trinken. Der Erfolg blieb ebenfalls aus. Durch morgendliche Schläge versuchte man dem gewünschten Ziel näher zu kommen. Man versagte ihm mittags die Suppe und genehmigte für morgens gnädigst eine halbe Tasse Kaffee. Erfolg =  Null  !

.Immer wieder mache ich die Erfahrung, daß körperbehinderte Kinder für gewisse Dinge sehr empfindlich sind. Bei diesen Körperbehinderten auf meiner Station habe ich den Eindruck, daß die Spastiker noch am feinfühligsten sind. So kann man sich vorstellen, daß ein sonst immer fröhlicher Spastiker bitterlich weinte und kaum zu beruhigen war, weil er seines Leidens wegen geschlagen worden war. Er ließ mich eines Abends an sein Bett rufen.

 Er sitzt tagsüber angeschnallt im Wagen, weil er sonst mit den Armen umsichschlägt und aus dem Wagen fällt. An dem besagten Abend gab ihm die Schwester noch eine Tablette in etwas Flüssigkeit. Beim Aufrichten schnellt ein Arm unter der Decke hervor und trifft den Trinkbecher, etwas schwappt aus der Tasse auf den Boden, was Grund genug ist, den Jungen zu schlagen." Spiel’ nicht immer verrückt und halte demnächst Deine Arme ruhig!" wird ergänzend hinzugefügt.

 Die eine Richtlinie brauche ich hier sicher nicht zu erwähnen, weil sie den Kern des Geschehens verfehlt. Sie ist für solche skrupellosen Fälle gar nicht berechnet. Was kann bei solchem Verhalten noch von dem offiziellen Namen "Heil- Lehr- und Pflegeanstalten" mit ehrlichem Gewissen vertreten werden?

 Ist die Bemerkung eines Patienten zu verwerfen, der sagt: "Die glauben das ja selber nicht, was die sagen, sonst würde es hier anders zugehen!". Die Kirche hat in den letzten Jahrzehnten sooft versagt, daß solche Dinge getrost abgestellt werden könnten, damit sie nicht ganz unglaubwürdig wird. Für den Diakonschüler ist es eine große seelische Belastung, solche Behandlung mit ansehen zu müssen. Kann man später dann noch mit ruhigem Gewissen vor einer Gemeinde stehen? - Ich nicht! - Noch schlimmer ist es für die diakonischen Helferinnen und Helfer. Sie scheiden für ein Jahr aus dem Beruf, verzichten auf gute Bezahlung, arbeiten hier für ein Taschengeld und müssen dann noch Dinge erleben, die sie im Beruf wahrscheinlich nie erleben.

Hat die Kirche nichts Besseres zu bieten? 
"Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!"
Oder gilt dieses Wort aus Matth. 25,40 b nicht für Anstalten?

Wichtige „Ausgrabung“

Jeder Zeitungsleser kennt die knappen Notizen wissenschaftlicher Erfolgs-Meldungen: Sensationelle Entdeckungen – da fand ein Team einen Tierzahn mit einem Alter von mehr als einer Millionen Jahren. Da legte eine Gruppe die Mauerreste einer antiken Siedlung frei oder fand im Moor die Reste eines Wickingerschiffes.

Mit einer solchen sensationellen Ausgrabung kann die „FAG JHH 2006“ zwar nicht aufwarten, aber „wichtig“ dürfen wir unsere „Ausgrabung“ nennen. Als Helmut Jacob und Ulrich Bach – oder gehörten Marianne Behrs und Klaus Dickneite auch schon dazu? – über Inhalte und Ziele unserer Arbeit nachdachten, fiel ihnen ein Schüler der Diakonen-Ausbildungsstätte „Martineum“ ein, der im Johanna-Helenen-Heim in den 60er Jahren sein Praktikum absolviert hatte, einen äußerst kritischen Praktikumsbericht für das Martineum schrieb und damit an der Ablösung der JHH-Diakonissen maßgeblich beteiligt war. Durch das Buch von Peter Wensierski geschult, wussten sie, dass es wichtig ist, Erinnerungen auch ehemaliger Mitarbeiter heranzuziehen.

Dieses Wissen, gekoppelt mit der wagen Erinnerung an jenen Praktikumsbericht, weckte in ihnen eine Art Forschertraum: Könnte dieser Bericht doch noch zu finden sein! Dann hätten sie nicht nur heutige Erinnerungen ehemaliger Mitarbeiter an uralte Zeiten; dann hätten sie uraltes Original-Gestein aus jenen Jahren. Sie trafen die Familie jenes Diakonen (es handelt sich um Jochen Twer, der inzwischen längst zur FAG gehört) mitten im Umzug: Wir nehmen uns Zeit, ich sortiere sehr vieles aus, weil unsere neue Wohnung kleiner ist; auch jenen Bericht hatte ich kürzlich in der Hand, vermutlich tat ich ihn zum Müll. (Er konnte ja nicht wissen, wie wichtig für die beiden sein Text inzwischen war).

Nach wenigen Wochen rief Jochen Twer an: Ich habe ihn doch noch gefunden – was für ein Glück!

Bei der Lektüre des Textes wird eine teilweise umständlich klingende Ausdrucksweise auffallen. Zum Beispiel ist mit „Wagen“ gelegentlich ein Auto, mehrfach aber auch ein Rollstuhl gemeint. Wir vereinbarten, am Text keinerlei Veränderungen vorzunehmen. Denn diese sprachliche Unsicherheit war typisch für jene Zeit. Behinderte Menschen waren noch so sehr am Rande unserer Gesellschaft, dass unsere Sprache an einigen Stellen die betreffenden Dinge nicht eindeutig benennen konnte: Wagen, Stühlchen, Fahrstuhl, Karren, Wägelchen – vieles war möglich, bis sich „Rollstuhl“ durchgesetzt hatte.

Ulrich Bach +

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Pfarrer Ernst K.