Ich absolvierte ein diakonisches Jahr vom 23.05.1960 bis zum 30.04.1961 im JHH auf der Frauenpflegestation, danach war ich 1¾ Jahr auf der Kinderschulstation
.
M. viel mir auf, als ich noch auf der Frauenstation arbeitete, die sich einen Stock unter der Kinderschulstation befand. Immer wieder sah ich dieses
Kind ganz in schwarz gekleidet. Ich traf sie auf der Treppe nach oben. Sie stand am Fenster und schaute nach draußen. Ich sprach sie an und fragte, warum sie so oft ganz in schwarz gekleidet sei? Sehr
zurückhaltend sagte sie mir, dass es ihre „Strafkleidung“ sei. Ich kann heute nicht mehr sagen, wie und ob unser Gespräch weiterging. Doch ich weiß noch, dass ich das Gehörte kaum glauben wollte.
Als ich dann auf die Kinderschulstation wechseln musste, war es für die Diakonissen eine große Umstellung. Bis dahin waren sie alleine auf der
Station. Niemand erfuhr, was sich dort abspielte. Ich kann mich auch noch nach 45 Jahren an mein ungutes Gefühl erinnern. Der große Schlafsaal mit etwa 16 Betten. Nichts freundliches und heimeliges, wie man sich
das für Kinder wünscht, war dort zu sehen.
Sehr schnell viel mir auf, dass M. eine negative Sonderstellung hatte. Ich war sehr erstaunt, dass sie morgens unter anderem zwei schwere an
Muskelschwund erkrankte Kinder waschen und anziehen musste. Es kostete sie sehr viel Überwindung die Mädchen zu versorgen, wenn sie ihre Menstruation hatten. Geeignete Pflegehilfsmittel, z.B. Handschuhe, gab es
nicht. Ich erinnere, dass eines dieser Kinder M. ins Gesicht spuckte, weil ihr irgend etwas nicht passte..
Mein zweites Erlebnis auf dieser Station, es ging wieder um M., hat mich sehr erschüttert. Wenn ich mich recht erinnere, gab es eine kleine Nische
zwischen den Schwesternzimmern. Am Ende der Nische stand ein Spind. Dort stand M., als ich morgens zum Dienst kam, vollständig angezogen mit dem Rücken zu mir. Ich fragte sie, was sie dort mache. Sie antwortetet,
dass sie zur Strafe die ganze Nacht dort habe stehen müssen.
Aus meiner Sicht war M. (einige Worte gestrichen) ein ganz verängstigtes, hilfloses und schutzloses Kind. Sie interessierte mich immer mehr. Ich
erfuhr, dass sie keine Familie hatte und somit „Freiwild“ für die Schwestern war.
Sehr verletzend waren auch immer die Badetage. Sie sind mir bis heute noch sehr deutlich vor Augen. Beschämend und im höchsten Maße verletzend und
verachtend war es, wenn die Schwestern im Badezimmer erschienen und M. und die anderen pubertierenden Mädchen „begutachteten“ indem sie sie an die Brust fassten um zusehen, ob sie schon einen BH brauchten. Ich
habe oft eine unbändige Wut und Ohnmacht gespürt, die heute noch, wenn ich mich damit beschäftige hoch kommt. Wie viel Narben müssen diese Erlebnisse bei M. hinterlassen haben?
Ein nächstes Erlebnis: M. hatte Geburtstag. Ich kümmerte mich, sehr zum Ärger der Schwestern, immer mehr um sie. Ich schenkte ihr einen
Füllfederhalter, den ersten in ihrer fürchterlichen Schullaufbahn. Am nächsten Tag war der Füllfederhalter verschwunden. M. hatte schon etwas Vertrauen zu mir bekommen und erzählte mir, dass Schwester E. alles
was sie bekam in die DDR schickte. Als ich den Vorgang der Oberin, Schwester Elf. erzählte, musste Schwester E. M. den Füllfederhalter zurückgeben.
Wiederholt habe ich der Oberin von den Vorfällen berichtet. Ihre Antwort war immer: “Mädelchen ich weiß, aber ich kann nichts machen!“
Wie ich aus Erzählungen weiß, sind M.vor meiner Zeit ganz viele traumatisierende Erlebnisse zugefügt worden.
Gesehen und erlebt habe ich, dass einem Kind Erbrochenes gefüttert wurde. M. ist vor meiner Zeit das gleiche geschehen. Gesehen und erlebt habe ich,
dass zuerst das Hauptgericht und danach die Suppe gereicht wurde. Wer nicht schnell genug aß, bekam die Suppe auf das Gemüse und die Kartoffeln geschöpft. Da M. keinen guten Appetit hatte, gehörte sie immer zu
denen, die diese „Pampe“ essen mussten.
Ein sehr brutales Geschehen: M. ging es oft sehr schlecht, wenn sie ihre Periode bekam, sie wurde des öfteren ohnmächtig. Ich sah wie die Schwestern
M. an den Armen hinter sich her über den Flur schleiften. Ich wollte M. zur Hilfe kommen und nahm ihre Beine, um sie zu tragen. Ehe ich mich versah, wurden mir ihre Beine aus der Hand geschlagen und ich durfte sie
nicht mehr berühren.
Vieles habe ich der Oberin immer wieder erzählt, in der Hoffnung, sie würde etwas verändern, aber ich bekam immer die gleich Antwort: “Mädelchen
ich weiß, aber ich kann nichts machen!“
7. Januar 2008
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